Ich schaue Wladimir an. (Er hat mir inzwischen seinen Namen verraten). Auch er scheint von diesen Personen ganz fasziniert zu sein. Beide haben breite Schultern und sind ca. 183,5 cm groß und da ihre Körper nicht die entsprechenden Rundungen aufweisen, gehe ich einmal davon aus, dass es sich um zwei männliche Personen handelt.
Ich bitte um Verständnis, wenn ich davon Abstand genommen habe, nähere Untersuchungen durchzuführen, um zu überprüfen, ob sich mein Eindruck bestätigen würde. In diesem Stadium wäre das vollkommen unangebracht gewesen. Wenn man jemanden noch nicht so lange kennt, ist es ratsam gewisse Höflichkeitsregeln zu befolgen und sich auf keinen Fall von seiner Neugier überwältigen zu lassen. Dazu gehört auch, dass man nicht gleich auf bestimmte Körperpartien starrt. Man könnte sein Gegenüber mit solchen Blicken verärgern oder schlimmer, man könnte sogar Absichten signalisieren, die man vielleicht gar nicht hat.
Die beiden Personen kommen mit großen Schritten auf uns zu. Aus lauter Eitelkeit habe ich natürlich wie immer keine Brille an und kann zunächst nur etwas kleines Oranges, eine Art Emblem auf den silbernen Anzügen erkennen. Doch als die Beiden näher kommen, erkenne ich knapp oberhalb der linken Brust einen kleinen orangefarbenen Dinosaurier auf den silbernen Anzügen. „Oh wie süüüüß!“ rutscht mir heraus. Mein Blick ist auf den kleinen Dino fixiert. Das Teil ist extrem puzzig. Als Auge hat er einen kleinen Diamanten und der Körper ist mit feinem glänzenden Garn aufgestickt.
Ich bin völlig überwältigt und spüre, wie das Blut in meinen Kopf schießt und mein Gesicht ganz heiß wird. Mein Benehmen ist mir sehr peinlich und ich will mich schon entschuldigen. Doch Wladimir und die Beiden lächeln und sind offensichtlich sehr amüsiert.
Nun stehen wir uns genau gegenüber, sie lächeln immer noch und strecken uns zur Begrüßung eine Hand entgegen. Wir geben uns die Hand einer nach dem anderen und ich stelle fest, dass auch ihre Hände weich und angenehm warm sind. Sie sagen „Hallo,“ und wir sagen auch „Hallo.“
Dieses eine Wort ist sicherlich nicht besonders aussagekräftig aber die Stimmen der Beiden sind sehr angenehm. Sie klingen wie sanfte tiefe Männerstimmen. So, als könnten sie keiner Fliege etwas antun.
Bei der Begrüßung verbeugen sich die Beiden und ich kann auf ihre Köpfe schauen. Was ich da sehe, sieht nicht unbedingt wie Haar aus. Es ist eher ein Netz aus verknotetem silbernen Drahtgeflecht, das sich aus lauter Spiralen zusammensetzt. Es erinnert mich an das Zeug mit dem ich immer meine Kessel schrubbe, wenn die Milch angebrannt ist. Es ist sehr effektiv man kann es überall kaufen. Auf den Köpfen der Beiden sieht es recht nett aus – sehr dekorativ und ist vermutlich auch leicht zu pflegen.
Ich betrachte die Beiden weiter. Der silberne Anzug bedeckt den ganzen Körper. Nur das Gesicht und die Hände sind unbedeckt. Die Hautfarbe ist beige bis hellbraun. Die Kopfform ist oval. Ihre Nasen sind gerade und mittelgroß und ohne besondere Merkmale. Manchmal öffnen sie beim Lächeln den Mund, und man sieht zwei Reihen makellos strahlend weiße Zähne umgeben von einem sinnlichen roten Mund.
Dann schaue abwechselnd ich in ein Paar hellgrüne und ein Paar türkiesfarbene Augen. Beide lächeln immer noch. Eigentlich sehen beide fast gleich aus, doch durch die Augenfarbe kann man sie unterscheiden. Die Form der Augen ist ein wenig unterschiedlich. Die Augenlider der hellgrünen Augen laufen nach oben spitz zu und die Augenlider der türkiesfarbenen Augen sind gerade und auch ein bisschen größer.
„Wie heißen Sie?“ werden wir gefragt. Wir nennen unsere Namen und unsere Gegenüber stellen sich dann auch vor. „Ich heiße Ohmie ,“ sagt der mit den türkiesfarbenen Augen. „Ich heiße Uhmie,“ sagt der mit den hellgrünen Augen. „Sehr erfreut,“ antworten wir.
„Dürfen wir Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“ fragt Ohmie freundlich und Wladimir und ich nehmen das Angebot gerne an. Gemeinsam gehen wir an das nächste Terminal. Das ist ca. 30 Meter entfernt. Als wir dort angekommen sind, drückt Ohmie auf einen Knopf und ein Spalt zwischen den beiden angrenzenden Terminals öffnet sich. Klick, und es erscheint eine viersitzige Couchgarnitur aus cremefarbenen Wildleder. „Sehr chick,“ denke ich.
„Nehmen Sie bitte Platz,“ sagt Uhmie. Sein Blick fällt auf meine Schuhe, an denen noch Schlammreste kleben. Ohmie bemerkt, dass ich mich nicht ganz wohl fühle. Er drückt noch mal auf einen Knopf und schon kommen aus dem selben Spalt ein paar Hausschuhe, ebenfalls aus cremefarbenen Wildleder. Ich versuche mich zu beeilen, doch beim Schuhe Wechseln sieht man einen Moment lang meine Strümpfe. Ups, da ist ein Loch drin und man kann fast meinen ganzen dicken Zeh sehen. Das macht keinen guten Eindruck. Und ich beschließe von nun an jeden Morgen ein paar ordentliche Strümpfe ohne Löcher anzuziehen, weil man ja nie weiß.....
Die Hausschuhe sind sehr bequem und ich nehme neben Wladimir auf der Couch Platz. Der Spalt öffnet sich erneut und heraus kommt wieder eine Person. Diesmal ist es unverkennbar eine Frau. Sie ist ca. 172 cm groß und schlank. Auch sie trägt einen enganliegenden silbernen Anzug, der ihren perfekten Körper sehr gut zur Geltung bringt. Sie hält eine gläserne Kaffeekanne in der Hand und eine Schale mit Schokoladenkeksen. Wladimir glotzt sie von oben bis unten an. Einige Körperpartien scheint er dabei ganz besonders in Augenschein zu nehmen. Das macht mich sehr sauer. Er kann seine Augen gar nicht mehr von ihr abwenden und sie erwidert seine Bewunderung mit ihrem lieblich süßen Lächeln.
Sie sieht gut aus, das will ich nicht leugnen aber auf mich macht sie einen sehr oberflächlichen Eindruck. Eine von den Frauen, die sich nur über ihr Äußeres definieren – gefühllos, vollkommen blasiert und hoffnungslos überkandidelt. Aber was will ich machen, Wladimir ist fasziniert von ihr. Ich könnte platzen – Männer sind alle gleich!
Als sie den Kaffee auf den Tisch stellt, sehe ich, dass auch sie so ein silbernes Netz auf dem Kopf hat und ich tröste mich damit, dass wenigstens meine Haare schöner sind – sehr viel schöner ...............
sebastian4711 - 15. Jan, 10:42
So unglaublich, dass ich es eigentlich selbst kaum glauben kann, wenn ich es mir recht überlege. Es ist so unglaublich, dass ich davon überzeugt bin, dass mir kein Mensch auf diesem Erdball glauben würde, wenn ich es erzähle. Die Meisten erwarten nun bestimmt, dass der Mann zudringlich wird und mir etwas widerfährt, womit ich unter Unständen nicht einverstanden sein könnte. Aber nein - etwas völlig anderes passiert – etwas womit niemand rechnen würde. Deshalb ist es auch so unglaublich. Alle, die den nachfolgenden Text lesen, werden glauben, ich hätte mir das alles nur ausgedacht - mit einer Ausnahme natürlich – dem Mann aus Russland.
Wir stehen also so da und er hält meine Hand. „Aber wir kennen uns doch,“ sage ich. „Ich bin sicher, wir haben uns doch schon mal gesehen. Haben sie in der RAA Deutsch gelernt?“
„Nein, ganz bestimmt nicht,“ sagt er und lächelt.
Ich durchwühle mein Hirn, aber es will mir nicht einfallen, woher ich diesen Mann kenne.
„Ich sehe Sie heute zum ersten Mal,“ sagt er. „Aber vielleicht kennen Sie mich aus der Werbung? Mein Bruder und ich, wir machen schon mal Werbung für Taschentücher und Schokoriegel und so. Mein Bruder und ich sehen uns sehr ähnlich. Daher kennen sie mich vielleicht,“ sagt er und lächelt auf mich herab.
„Oh nein,“ denke ich, „das ist völlig unmöglich.“ Denn nun dämmert mir, woher ich diesen Mann kenne.
Ich habe jedoch kaum Zeit darüber nachzudenken, denn von einer Sekunde auf die andere wird der Himmel über uns rabenschwarz. Wir schauen beide nach oben. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich kann keinen Himmel mehr erkennen. Keine dunkle Wolke alles über uns ist schwarz, schwärzer als die tiefste Nacht. Dann erscheint genau über uns ein kleines helles Loch in der schwarzen Fläche, die da über uns wabert.
Ich spüre einen extrem starken Druck auf meinem Kopf. Gespannt schauen wir nach oben. Er hält immer noch meine Hand. Ich glaube er hat Angst und ist sehr froh, dass ich bei ihm bin. Das helle Loch über uns entwickelt sich langsam zu einem Lichtstrahl. Ganz allmählich wird er kräftiger und bald hat er uns beide erfasst. Das Licht ist so hell, dass ich es nicht ertragen kann. Ich glaube, mein Kopf platzt. Ich weiß nicht mehr, was ich tue. Ich handle nur noch instinktiv und klammere mich an ihn.
Dann spüre ich einen Sog, der von oben kommt. Das ist eigentlich recht spaßig, denn plötzlich stehen alle meine Haare nach oben. Aber ganz geheuer ist mir das nicht und ich klammere mich ganz fest an meinen russischen Leidensgenossen. Dann schweben er und ich der schwarzen Fläche über uns entgegen. Ich kann meine Augen nicht offen halten, das helle Licht tut einfach zu weh.
Nach wenigen Sekunden gelangen wir an eine Öffnung. Das merke ich auch nur, weil die Sogkraft abrupt nachgelassen hat. Ich mache die Augen wieder auf und er und ich finden uns in einem riesigen runden Raum wieder.
Da stehen wir nun und schauen uns an und können es selbst kaum glauben. Nachdem wir einmal tief Luft geholt haben, schauen wir uns um. Das Innere des Raumes ist scheint dunkelblau. An den Wänden sieht man große Bildschirme und Computerterminals. Vor jedem Terminal ist ein Stuhl befestigt.
„Ich glaube, wir sind in einem Raumschiff gelandet,“ flüstere ich. Er hält immer noch meine Hand aber ich habe ihn inzwischen aus meiner Umklammerung befreit. Er schaut mich besorgt an. Nun lächelt er nicht mehr. Neben uns kann man die runde Klappe im Boden, durch die wir in das Raumschiff gelangt sind, erkennen. Das Prinzip, nach welchem sich diese Falltür öffnet und wieder schließt, habe ich bei einer alten Spiegelreflexkamera meines Vater gesehen. Ich glaube, es besteht aus Lamellen, die sich schnell öffnen und ebenso schnell wieder schließen können. Die Lamellen der Falltür scheinen aus Stahl zu sein – ich bin mir aber nicht sicher. Ich betrachte die Falltür und bin gespannt, was mein Vater wohl dazu sagen wird, wenn ich es ihm erzähle.
Plötzlich zwickt mein Gefährte mich in den Arm. Zwei Personen haben soeben den Raum betreten. Beide Personen sehen völlig gleich aus. Sie sind mit enganliegenden silbernen Anzügen bekleidet, die aus einem Teil bestehen. Ich bin ganz fasziniert von diesen Anzügen. Das scheinen die beiden Personen auch sofort zu merken, denn sie zwinkern mir freundlich zu......
sebastian4711 - 9. Jan, 23:53
Ich verlasse die Wohnung meiner Nachhilfeschülerin und trete den Heimweg an. Ich liebe die Gegend dort. Sie ist sehr schön – viel Natur – viele Felder und ein paar Pferdekoppeln, an denen ich gerne vorbeigehe, um die Pferde zu streicheln.
Plötzlich ist er wieder da, der pulsierende Schmerz in meinem Kopf. Das Betäubungsmittel, das ich ein paar Stunden zuvor in meinen Nacken gespritzt bekommen habe, verliert allmählig seine Wirkung. Und in dem Maße wie die Spritze ihre Wirkung verliert, verschlimmern sich meine Schmerzen.
Ich spüre den Herzschlag in meiner Brust, meinem Hals, in meinen Ohren. Er dringt tief in meinen Kopf und hallt an meiner Schädeldecke wider. Mein ganzer Körper ein Resonanzraum - reduziert auf das Echo eines Muskels, der sich permanent zusammenzieht und wieder ausdehnt.
Es regnet. Den ganzen Tag hat es schon geregnet. Mal ein heftiger Schauer – mal ein längerer Nieselregen. Ein typisches Wetter für Mitte Dezember – kalt und nass. Ein Wetter bei dem man sich am liebsten den Tod holen möchte.
Die Dämmerung setzt langsam ein. Noch habe ich das Wohngebiet nicht verlassen und die wenigen Autos, die hier durch die engen Straßen fahren haben bereits ihre Scheinwerfer eingeschaltet. Ihre Lichter und Umrisse spiegeln sich auf der nassen Fahrbahn. Ich steuere auf einen kleinen Park zu. Ihn zu durchqueren bedeutet eine Abkürzung von ca. 5 Minuten. Auf meinem Hinweg bin ich schon hindurch gegangen. Ich will so schnell wie möglich nach Hause. Die Schmerzen sind unerträglich und ohne großes Zögern gehe ich in den Park hinein.
Der Park ist selbst am Tag nicht besonders übersichtlich. Er ist weder besonders groß noch hat er irgendetwas spektakuläres an sich. Es gibt kein Denkmal, keine Statue, die ihn schmücken könnten oder ihm irgendeine Bedeutung verleihen würden. Ein paar Grasflächen mit ein paar Bäumen und Sträuchern hinter denen man gelegentlich ein paar Kaninchen verschwinden sieht. Eigentlich wird er kaum frequentiert. Meistens trifft man hier Hundebesitzer, die mit ihren Lieblingen Gassi gehen.
Er ist nicht mehr als eine Verbindung zwischen zwei Hauptstraßen, die beide in meinen Wohnort führen. Seine engen Pfade winden sich um einzelne größere Strauch- und Baumgruppen und man weiß nie, was sich hinter der nächsten Biegung verbirgt. Die Wege sind nicht befestigt und bei solch einem Wetter braucht man festes Schuhwerk, um unbeschadet an das andere Ende zu gelangen.
Ich komme nur sehr langsam voran. Mein Kopf klopft und mein Herz rast. Jedes Mal, wenn ich einen Fuß auf den nassen lehmigen Boden setze, erfasst er mich – umschließt meine Füße - saugt sie in sich hinein. Er will sie nicht wieder freigeben. Es kostet mich all meine Kraft einen Fuß vor den anderen in diesen Matsch zu setzen, um ihm anschließend meine Füße wieder zu entreißen. Es gelingt mir kaum, die Balance zu halten.
Nach einigen Minuten bin ich im Zentrum des Parks angelangt. Mir ist schwindlig und ich merke, dass ich am ganzen Körper zittere. Der stechende Schmerz, der finstere Himmel über mir, neben mir dunkle hohe Nadelbäume – ich kann kaum noch sehen, wo ich langgehe.
Ich versuche mich zusammenzunehmen. Meine Augen konzentrieren sich auf die gewundene Wegstrecke die noch vor mir liegt. Mein Blick erreicht die nächste Baumgruppe, um die sich der Weg biegt und eine andere Richtung nimmt. Mein Blick verweilt dort. Es flimmert vor meinen Augen. Angestrengt versuche ich mir die Bäume genau anzuschauen. Etwas bewegt sich zwischen den Bäumen. Ich kann nicht genau erkennen, was es ist. Dann sehe ich eine dunkle Gestalt. Sie schiebt sich langsam aus der Baumgruppe heraus. Es ist ein Mann. Er kommt auf mich zu. Er hat einen langen dunkelgrauen Regenmantel an und hält einen Schirm in der Hand. Er kommt näher und schließlich begegnen wir uns. Er grüßt und geht an mir vorbei. Als wir noch fast auch gleicher Höhe sind, bleibt er stehen und fragt mich nach der Uhrzeit. Ich bemerke einen ost-europäischen Akzent in seiner Stimme und ich frage ihn: „Kennen wir uns nicht?“ Ich nehme meine Kapuze herunter, um ihn besser sehen zu können. Der Mann ist sehr hoch gewachsen und ziemlich kräftig. Er antwortet nicht. Er schaut mich nur an. Dann zieht er seine Hand aus der Manteltasche und streckt sie mir entgegen. Er nimmt meine Hand und hält sie fest in seiner. So stehen wir da – einige Sekunden lang. Seine Hand ist angenehm warm. Seine Stimme klingt freundlich und eigentlich scheint er recht sympathisch zu sein. Doch was dann passiert ist einfach unglaublich.
sebastian4711 - 22. Dez, 20:20
There is no escaping the moon
relentlessly you send the sun’s reflection
down on me
and turn my night into day
my day into night
for more than seven days
you usually stay
and don’t go away
until you have left me
crumpled and shattered
completely unable to manage my day.
then you vanish from the sky
like a thief with his prey
sebastian4711 - 17. Nov, 23:39
Die Stunde begann mit einem Video von Rammstein „du riechst so gut“.
Dieses Video enthielt Elemente aus dem Märchen „Rotkäppchen“. Hier muss nicht unbedingt die Version der Gebrüder Grimm zu Grunde gelegen haben. Es orientierte sich vielleicht inhaltlich eher an der französischen Originalversion von Perrault, die allerdings nur wenigen Leuten bekannt ist.
Das Böse bzw. die Triebhaftigkeit wird in allen drei Fällen (Grimm – Perrault – Rammstein) durch den Wolf symbolisiert. Bei Rammstein dominiert es das Video und übt durch seine erotisch sinnliche Verpackung eine starke Anziehung aus. Die Figuren handeln instinktiv – sind auf ihre Sinneswahrnehmung – hier der Geruchssinn - reduziert „du riechst so gut“. Sie verhalten sich eher wie Tiere als Menschen.
Das Video war meiner Meinung nach sehr schön in Szene gesetzt – über die Musik von Rammstein mag man sich streiten – für mich waren Musik und Video eine Einheit. Das Ende des Videos hat auf mich eher bedrückend gewirkt.
So habe ich mir die Zuwanderung von Wölfen nicht vorgestellt!!!
Es mag aber von anderen Zeitgenossen durchaus als amüsant wahrgenommen worden sein.
Die darauffolgenden Ausschnitte aus der Jin-Version von Rotkäppchen habe ich als extrem bedrückend empfunden. Hier war die Schnittmenge zwischen der Grimmversion und dem Jin Märchen verschwindend klein – verzerrt und entstellt. Ein gemeinsames Element, das in auch in vielen traditionellen Märchen zu finden ist, sind die Tiere, die als Medien zur Übermittlung von Informationen bzw. Botschaften benutzt wurden. Ganz besonders schlimm fand ich in diesem Zusammenhang, dass das Mädchen laut übermittelter Botschaft das Blut seiner Mutter trank und das Fleisch ihrer Mutter aß. Wenn das ein biblischer Bezug sein sollte – so ist er ziemlich geschmacklos ausgefallen.
Interessant ist jedoch, dass das Blut bei Rammstein und auch in der Jin-Version eine große Rolle spielt und vielleicht auch eine direkte Assoziation nicht nur zum Plot sondern auch zur roten Kappe im Märchen „Rotkäppchen“ darstellt. Vielleicht ist die Kappe im Märchen allein durch die Tatsache, dass sie rot ist schon Unheil bringend, so wie der Wunsch der Mutter bei Schneewittchen nach einem Mund so rot wie Blut, seine Schatten bereits zu Beginn des Märchens vorauswirft.
Bei vielen Grimms Märchen ist der Bezug zur Bibel in der Blut auch eine wesentliche Rolle spielt, beabsichtigt. Dort wird im Gegensatz zu Perrault der christliche Wert der göttlichen Gnade vermittelt. In Grimms „Rotkäppchen“ gibt es das Eingreifen von außen, quasi durch eine Art höhere Macht, die nicht von Anfang an Bestandteil der Geschichte ist. Sie schaltet sich dann ein, wenn die Hauptfigur entweder durch eigenes Verschulden oder durch eine Bedrohung durch andere Figuren im Märchen in Gefahr gerät. Im Fall Rotkäppchen hat sich die Protagonistin der Autorität der Mutter widersetzt, sie ist vom Weg abgekommen. Als Konsequenz ihres Ungehorsams bzw. als Konsequenz ihrer eigenen Triebhaftigkeit gerät sie in Schwierigkeiten. Bei Perrault bezahlt sie den Fehltritt mit ihrem Leben und mit dem Leben der geliebten Großmutter. Bei Grimm wird sie durch das Einwirken von außen – hier ist es der Jäger, der hier für das Eingreifen Gottes steht – gerettet. Weder bei Perrault, noch bei Rammstein oder der Jin-Version gibt es Rettung für die Hauptpersonen. Sie sind dem Bösen gnadenlos ausgeliefert.
Die Frage: „konnte Rotkäppchen in den uns bekannten Versionen dem Wolf überhaupt widerstehen?“ müsste vielleicht auch einmal näher betrachtet werden. Bei Grimm und Perrault argumentiert der Wolf sehr nachvollziehbar. Das Wetter ist schön, die Vögel singen und die Blumen blühen. Welche Großmutter freut sich nicht über einen Strauß Blumen? Ich bin der festen Überzeugung, dass Rotkäppchen dem Wolf unter keinen Umständen widerstehen konnte. Weder bei Perrault noch bei Grimm. Auch in der Rammstein- und Jin-Version übt das Böse schon durch seine äußere Verpackung eine derart starke Anziehung aus, dass es unmöglich ist, ihm zu entkommen. Allerdings gibt es hier keinerlei Rettung für Rotkäppchen. Rettung gibt es nur bei der Grimmversion.
Auffällig war bei der Jin-Version, dass Menschen mit Menschen konfrontiert wurden, die wie Menschen aussahen, aber innerlich wie Tiere bzw. Raubtiere sein sollten. Für diese Menschen schien es erstrebenswert zu sein, wie ein Raubtier zu handeln - wie ein Raubtier zu empfinden und sich nur auf seinen Instinkt reduziert zu verhalten. Für sie stellten menschliche Gefühle eine unglaubliche Gefahr dar. Die größte denkbare Gefahr überhaupt. Vermutlich haben sie begriffen, wie gefährlich Gefühle sein können und haben deshalb ganz bewusst keinerlei Emotionen zugelassen. Und wenn, dann nur die negativen. Die positiven: Zuneigung oder Liebe schienen absolut unerwünscht zu sein. Es ging sogar soweit, dass eine der Hauptfiguren sterben musste, weil sie sich verliebt hatte und dieses Gefühl für ihr Gegenüber eine so starke Bedrohung darstellte, dass er sie tötete.
Was vielleicht auch gar nicht so dumm war, denn schließlich ist nichts so gefährlich und so sehr von Konsequenz wie die Liebe. Es ist bestimmt realistischer und sicherlich auch vernünftiger vielleicht sogar gesünder sich ausschließlich auf die Physis zu beschränken, i.e. zu funktionieren und dem Instinkt mehr Raum zu geben als Gefühlen, die unter Umständen sehr schmerzlich sein können.
sebastian4711 - 6. Nov, 20:35
Entschuldigung!
Es ist ungefähr 22.30 Uhr. Ich stehe in Köln am Hansaring mit einer Tüte Chips in der Hand, die ich mir gerade am Automaten gezogen habe und die ich kaum angebrochen habe, als die Bahn kommt. Die Tüte wandert in meinen Rucksack und meine Augen wandern über die vorbeifahrenden Wagons. Die Bahn hält, und ich steige in den letzten Wagon ein. Dieser ist ziemlich leer. Ich nehme auf einem Sitz in einer Klappstuhlreihe entlang des Fensters Platz. Es sind Sitze, die man bei Bedarf herunterklappen kann und die sich von alleine wieder hochklappen.
Selbstverliebt betrachte ich mein Spiegelbild im Fenster gegenüber. Dort sitzt niemand. Ich packe meine Chips wieder aus und beginne aufs neue mehrere Chips auf einmal genüsslich in meinem Mund verschwinden zu lassen.
Der Wagen ist ziemlich schmutzig, fällt mir auf. Vor mir liegt eine kleine Pappschale mit einigen übriggebliebenen Pommes frites an denen noch Currysoße klebt. Überall liegen zusammengeknülltes Papier, entwertete Fahrkarten und leere bunte Tüten, in denen noch vor wenigen Minuten begehrte Süßigkeiten steckten. Mein Ambiente stört mich eigentlich wenig – ich bin mit meinen Chips beschäftigt.
Auf der anderen Seite ist ebenfalls eine Reihe mit Klappsitzen. Alle Sitze sind hochgeklappt und rechts am Ende der Klappsitzreihe sind Sitzbänke, die jeweils gegenüber von einander angebracht sind und auf denen vier Leute Platz haben. Auf der ersten Bank am Fenster ein Stückchen weiter den Gang hinunter sitzt ein junger Mann in einem grünen Parka. Ich kann nur seinen Kopf und einen Teil seines Oberkörpers sehen. Er ist blond - vielleicht 25. Er trinkt Bier.
„Ein Bier wäre vielleicht jetzt auch nicht schlecht“, denke ich, aber ich gehöre nicht zu den Damen, die abends in der S-Bahn Bier trinken.
Mir fällt auf, dass der junge Mann eine Plastiktüte bei sich hat, in der sich noch weitere Bierflaschen befinden und einen Rucksack. Der scheint leer zu sein. Der junge Mann gibt merkwürdige Geräusche von sich – eine Art leises Stöhnen.
Es sind nicht besonders viele Fahrgäste in diesem Wagon. Ich beobachte ihn.
In regelmäßigen Abständen legt er den Kopf in den Nacken, führt die Bierflasche zu seinem Mund und trinkt. Dann legt er eine kleine Pause ein und stöhnt. Jedes Mal ein bisschen lauter. Immer wieder trinkt er und stöhnt. Minutenlang – fast wie ein Ritual. Plötzlich sehe ich, wie er sich nach vorne lehnt, seinen Rucksack nimmt, die obere Schlaufe löst und ihn so weit wie möglich öffnet. Mit beiden Händen umklammert er den oberen Rand des Rucksacks. Seine Hände hält er wie zu Fäusten geballt. Den Rucksack so haltend beugt er sich nach vorn über und erbricht.
Außer ihm und mir ist noch eine Frau in diesem Abschnitt des Wagens. Sie sitzt auf der anderen Seite des Ganges. Es riecht nach Erbrochenem.
Angeekelt erhebe ich mich von meinem Sitz und steuere eine Bank in der Mitte des inzwischen fast leeren Wagons an.
Jäh hat er meine Feierabend-Kartoffelchips-Idylle gestört. Das ist zu viel für mich.
„Entschuldigung,“ sagt er, als ich an ihm vorbei gehe. „Entschuldigung.“
Ich habe eine Bank in sicherer Entfernung gefunden und setze mich auf den Fensterplatz. Meine Chips habe ich immer noch nicht aufgegessen und so hole ich erneut die Tüte aus meiner Tasche.
Es ist dunkel und ich schaue aus dem Fenster. Außer wenigen kleinen Lichtern die an mir vorbeikriechen, kann ich nichts erkennen.
Ich greife in meine Tüte und höre wie er hinten im Wagon stöhnt. Er stöhnt, dann würgt er und dann Husten. Dann macht er wieder seinen Rucksack auf. Danach ein kleine Pause. Dann wieder Stöhnen - Würgen und Husten und eine kleine Pause. Von Haltestelle zu Haltestelle.
Ich will nicht sehen, was er macht. Sein Würgen und sein Husten werden immer lauter – klingen jedes Mal schlimmer. Sein Husten röhrt durch den Wagon. Ich drehe mich um und sehe, wie er seine Jacke auszieht. Er hat nur noch ein T-Shirt an. Sein Husten klingt mittlerweile so, als wolle er seine ganze Lunge mit aushusten.
Eine Haltestelle weiter. Der Zug hält. Der junge Mann steht auf. Er bemüht sich die Balance zu halten und schafft es zum Ausstieg und auf den Bahnsteig. Ich sehe noch, wie er langsam schwankend den Bahnsteig entlang geht und seinen Rucksack in einen metallfarbenen Mülleimer steckt. Er hat nur ein T-Shirt an, seine Jacke hat er unter seinen Arm geklemmt. Ich höre ihn ein letztes Mal husten. Meine Bahn fährt weiter und er verschwindet in der Dunkelheit.
sebastian4711 - 19. Okt, 14:38
Vor noch nicht allzu langer Zeit lebte einmal eine entzückende Teenagerin namens Vanessa mit ihrer Mutter, einer Frisöse und ihrem Vater, einem Diplomforstwirt, am Rande eines großen Waldes.
Vanessa war ein ausgesprochen liebes Mädchen und bereitete ihren Eltern kaum Sorgen. Sie war selten krank, gut in der Schule und zur großen Freude ihres Vaters Klassenbeste in Biologie. Sie kannte die botanischen Namen vieler Pflanzen und Bäume, weil sie ihren Vater oft bei seinen Kontrollgängen durch den Wald begleitete.
Doch wenn Kinder in ein bestimmtes Alter kommen, haben sie ihre eigene Vorstellung davon, wie sie sich kleiden und wie sie ihre Haare tragen möchten. Und so kam es, dass Vanessa sich eines Nachmittags von einem Klassenkameraden den Schädel bis auf einen 7 cm breiten Streifen, der von der Stirn bis in den Nacken reichte, kahl rasieren ließ. Den übriggebliebenen Haarstreifen färbten sie mit einem Mittel aus dem Salon der Mutter neongrün.
Vanessas Eltern hatten große Mühe, die Begeisterung der Beiden über die neue Frisur zu teilen. Die Großmutter hingegen, die am anderen Ende des Waldes lebte und ihre Enkelin bedingungslos liebte, lächelte nur und hatte eine brillante Idee. Sie nähte für ihre Enkelin eine Kappe aus dunkelrotem Cordsamt. Die rote Samtkappe sah einfach großartig aus und Vanessa zog sie sehr gerne an. Alle waren glücklich und so erhielt die Teenagerin ihren Kosenamen „Rotkäppchen“.
Eines Tages, es war in den Sommerferien und der Vater war mit seinem Geländewagen unterwegs, sagte die Mutter zu Rotkäppchen: „Hör mal Vanessa! Mein Wagen ist kaputt, und die Oma braucht dringend ein paar Sachen. Nimm den Korb hier und geh schnell zu Fuß. Ein bisschen Bewegung tut dir gut.“ „O.k. kein Problem,“ antwortete Rotkäppchen. Die Mutter nahm den Korb und legte eine Flasche Chianti DOC aus dem Aldi für € 1,98, einen Marmorkuchen mit Schokoglasur für € 1,75 aus dem Lidl, einen Reiniger für die dritten Zähne und ein Heft mit Kreuzworträtseln hinein. (Als berufstätige Frau hat man nicht immer Zeit, selbst zu backen, das wird jeder verstehen.) Rotkäppchen nahm den Korb, zog ihre rote Kappe an und ging los.
Als sie ca. 500 Meter Weg zurückgelegt hatte, hörte sie eine Stimme, die irgendwo aus dem Gebüsch kam.
„He Baby,“ sagte die Stimme. „Findest du nicht, dass das Wetter heute extrem angenehm ist? Was rennst du denn so durch den Wald? Komm her und leg dich ein bisschen zu mir ins Gras!“
Rotkäppchen drehte sich um und sah hinter einem großen Haselnußstrauch den Wolf liegen.
„Tut mir leid, hab keine Zeit. Bin mit einem Carepaket für die Oma unterwegs. Vielleicht ein andermal.“ antwortete Rotkäppchen.
„Schade,“ sagte der Wolf. „Ich habe hier nämlich etwas, das dich bestimmt interessieren wird.“
„Was denn?“ fragte Rotkäppchen.
„Dann musst du schon ein bisschen näher kommen,“ sagte der Wolf.
Neugierig ging sie auf den Strauch zu, machte ihren Hals lang, um besser sehen zu können. Doch kaum hatte sie ihren Kopf über einen Ast gestreckt, hatte der Wolf sie auch schon gepackt und ehe sie sich versah, lag sie neben ihm im Gras.
„Von dir träume ich schon lange Chérie,“ sagte der Wolf, legte seine schwarze Pfote auf Rotkäppchens Schulter und hielt ihr seine dicke schwarze Nase ins Gesicht.
“Igitt, geh weg! Du hast Mundgeruch,“ sagte Rotkäppchen.
„Das liegt daran, dass ich lange nichts gegessen habe,“ antwortete der Wolf. „Lass mal sehen, was du in deinem Körbchen hast!“
„Bleib da weg,“ schrie Rotkäppchen und schlug ihn auf die Pfote.
Aber der Wolf ließ sich nicht abhalten.
„Oh, das ist ja mein Lieblingsrotwein und Kuchen habe ich auch lange nicht mehr gegessen – gar nicht schlecht. Und für meine Bildung müsste ich auch unbedingt mal was tun, “ sagte er und schaute sich die Kreuzworträtsel etwas genauer an.
Dann packte er den Kuchen aus, öffnete die Flasche Rotwein und nahm einen kräftigen Schluck. Anschließend reichte er Rotkäppchen die Flasche und kaum war eine Stunde vergangen, hatten Rotkäppchen und der Wolf den Wein getrunken und den Kuchen aufgegessen und lagen Arm in Arm hinter dem Haselnußstrauch.
Ein paar Spaziergänger, die gerade vorbeigingen, wunderten sich über die Geräusche, die man aus dieser Richtung vernehmen konnte, zogen die Schultern hoch, lächelten und schauten einander amüsiert an. Nach einer Weile hörte man nur noch ein lautes Schnarchen und erst nach Einbruch der Dunkelheit wurde Rotkäppchen von einer rauen Stimme geweckt, die ihr ins Ohr hauchte:
„Sag mal Chérie, kennst du einen Fluss in Ägypten oder eine Stadt in Italien mit drei Buchstaben?“
Rotkäppchen rieb sich die Augen und schaute den Wolf verdutzt an.
„Oh je, es ist schon spät. Ich muss jetzt schnell nach Hause gehen,“ sagte sie, stand auf, rückte ihre Sachen zurecht und gab dem Wolf zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Dann trat sie den Heimweg an.
Total verschmiert und mit einem riesigen Knutschfleck am Hals kam sie zu Hause an. Vater und Mutter waren völlig schockiert. Sie schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und schrieen: „Mein Gott Vanessa. Was hast du nur wieder angestellt.“ Rotkäppchen bekam zur Strafe 14 Tage Fernsehverbot. Ihre Freundinnen waren allerdings sehr beeindruckt, als Rotkäppchen am nächsten Tag ihre Geschichte erzählte und ihnen stolz ihren Knutschfleck zeigte.
Der Vorfall sprach sich herum und bald sah man viele junge Damen aller Alterklassen mit roten Kappen und einem Korb in der Hand durch den Wald laufen. Die ansässige Textilindustrie, die sich inzwischen auf die Produktion roter Samtkappen spezialisiert hatte, erlebte einen nie da gewesenen Boom. Die Supermärkte verzeichneten einen Umsatzanstieg bei italienischem Rotwein und Schokoladenkuchen und die Geburtenrate stieg ebenfalls auffällig an, was sich sehr positiv auf die desolate demographische Lage der Nation auswirkte. Alle waren glücklich, und die Regierung beschloss die Zuwanderung von Wölfen zu deregulieren.
sebastian4711 - 14. Okt, 19:26
Der Platz, an dem ich schreibe ist ein spannender Ort, an dem über Leben und Tod entschieden wird - über Glück und Unglück. Es ist ein Ort, an dem Menschen ins Wasser fallen und ich allein darüber entscheiden kann, ob sie von Haien gefressen, von alleine ertrinken oder von einer überdimensional gut aussehenden Strandwache gerettet werden. Manche Figuren verlieben sich unsterblich ineinander und werden wenig später durch Krieg, Krankheit, Tod oder Intrigen wieder von einander getrennt.
Der Platz, an dem ich schreibe, ist der Ort, an dem das Schicksal meiner einzelnen Figuren und Charaktere bestimmt wird. Sie erleben Unglaubliches - Glück aber auch Leid in einer Intensität, die dem normalen Durchschnittsbürger vermutlich für immer verwehrt bleiben wird.
Oft bin ich grausam - ich weiß - aber ich muss es sein. Würde ich meine Charaktere nicht quälen, leiden und sterben lassen, so müssten sich eben Figuren aber auch die Leser meiner Geschichten zu Tode langweilen, oder - noch schlimmer - sie würden vor lauter Langeweile auf dumme Gedanken kommen.
Wer will schon eine Geschichte lesen, bei der alles vollkommen reibungslos abläuft, ungefähr so: Ein kleines Mädchen soll seiner Großmutter, die am anderen Ende eines großen Waldes alleine in ihrem Häuschen lebt, Gebäck und Wein bringen. Das kleine Mädchen geht durch den Wald, lauscht entzückt dem Gesang der Vögel, pflückt noch ein paar Blumen und kommt wenig später unversehrt bei der Großmutter an, die sie liebevoll in die Arme schließt.
Eine solche Geschichte ist allenfalls nett. Aber wer würde in eine Buchhandlung gehen und Geld dafür ausgeben?
Man ist auf die Wölfe, die bösen Stiefmütter, die Hexen und Zauberer angewiesen. Man braucht etwas, das die heile Welt aufs Schlimmste in Unordnung bringt und Menschen an Abgründe führt, die so zerklüftet sind, dass ihre eigene Mutter gezögert hätte, sie auf die Welt zu bringen, hätte sie jemals eine Ahnung davon gehabt.
Deshalb muss der frisch verliebte Jüngling von einer Schlange gebissen werden, mit dem Flugzeug abstürzen oder auf seinem Segelboot in ein Unwetter geraten und samt seines Bootes unwiederbringlich auf dem Meeresgrund verenden. In allen Fällen lässt er eine junge Geliebte zurück, die, wenn sie sich nicht vor lauter Gram ebenfalls in die Fluten stürzt, in ihrer Trauer um den verlorenen Geliebten ganze Seen weint, bis sie solche Ringe unter den Augen hat, dass selbst die beste Augencreme der Welt diese nicht wieder zu beseitigen vermag. In diesem Zustand ist sie natürlich vollkommen unbrauchbar, wird niemals mehr einen neuen Lebenspartner finden und mir bleibt nichts anderes übrig, als sie in ein Kloster zu stecken oder anderweitig zu beseitigen.
Doch mir selbst geht es ja auch nicht viel besser. Der Platz, an dem ich schreibe, ist nicht der Platz, an dem ich sein möchte. Es ist der Platz, an dem ich schreibe - nicht mehr und nicht weniger. Hinter dem ganzen Elend meiner Figuren steckt meine eigene erbärmiche Existenz. Denn irgendwie muss ja auch ich meine Krisen und gescheiterten Affairen bewältigen. Auch wenn unschuldige Personen dabei Schaden nehmen. Was macht das schon? Man darf die Dinge eben nicht allzu ernst nehmen. Schließlich ist es doch nur eine Geschichte - es ist doch alles nur ein Film - ein Theaterstück, das an dem Platz, an dem ich schreibe, stattfindet.
sebastian4711 - 10. Sep, 13:15