Freitag, 14. Oktober 2005

Rotkäppchen

Vor noch nicht allzu langer Zeit lebte einmal eine entzückende Teenagerin namens Vanessa mit ihrer Mutter, einer Frisöse und ihrem Vater, einem Diplomforstwirt, am Rande eines großen Waldes.

Vanessa war ein ausgesprochen liebes Mädchen und bereitete ihren Eltern kaum Sorgen. Sie war selten krank, gut in der Schule und zur großen Freude ihres Vaters Klassenbeste in Biologie. Sie kannte die botanischen Namen vieler Pflanzen und Bäume, weil sie ihren Vater oft bei seinen Kontrollgängen durch den Wald begleitete.

Doch wenn Kinder in ein bestimmtes Alter kommen, haben sie ihre eigene Vorstellung davon, wie sie sich kleiden und wie sie ihre Haare tragen möchten. Und so kam es, dass Vanessa sich eines Nachmittags von einem Klassenkameraden den Schädel bis auf einen 7 cm breiten Streifen, der von der Stirn bis in den Nacken reichte, kahl rasieren ließ. Den übriggebliebenen Haarstreifen färbten sie mit einem Mittel aus dem Salon der Mutter neongrün.

Vanessas Eltern hatten große Mühe, die Begeisterung der Beiden über die neue Frisur zu teilen. Die Großmutter hingegen, die am anderen Ende des Waldes lebte und ihre Enkelin bedingungslos liebte, lächelte nur und hatte eine brillante Idee. Sie nähte für ihre Enkelin eine Kappe aus dunkelrotem Cordsamt. Die rote Samtkappe sah einfach großartig aus und Vanessa zog sie sehr gerne an. Alle waren glücklich und so erhielt die Teenagerin ihren Kosenamen „Rotkäppchen“.

Eines Tages, es war in den Sommerferien und der Vater war mit seinem Geländewagen unterwegs, sagte die Mutter zu Rotkäppchen: „Hör mal Vanessa! Mein Wagen ist kaputt, und die Oma braucht dringend ein paar Sachen. Nimm den Korb hier und geh schnell zu Fuß. Ein bisschen Bewegung tut dir gut.“ „O.k. kein Problem,“ antwortete Rotkäppchen. Die Mutter nahm den Korb und legte eine Flasche Chianti DOC aus dem Aldi für € 1,98, einen Marmorkuchen mit Schokoglasur für € 1,75 aus dem Lidl, einen Reiniger für die dritten Zähne und ein Heft mit Kreuzworträtseln hinein. (Als berufstätige Frau hat man nicht immer Zeit, selbst zu backen, das wird jeder verstehen.) Rotkäppchen nahm den Korb, zog ihre rote Kappe an und ging los.

Als sie ca. 500 Meter Weg zurückgelegt hatte, hörte sie eine Stimme, die irgendwo aus dem Gebüsch kam.
„He Baby,“ sagte die Stimme. „Findest du nicht, dass das Wetter heute extrem angenehm ist? Was rennst du denn so durch den Wald? Komm her und leg dich ein bisschen zu mir ins Gras!“
Rotkäppchen drehte sich um und sah hinter einem großen Haselnußstrauch den Wolf liegen.
„Tut mir leid, hab keine Zeit. Bin mit einem Carepaket für die Oma unterwegs. Vielleicht ein andermal.“ antwortete Rotkäppchen.
„Schade,“ sagte der Wolf. „Ich habe hier nämlich etwas, das dich bestimmt interessieren wird.“
„Was denn?“ fragte Rotkäppchen.
„Dann musst du schon ein bisschen näher kommen,“ sagte der Wolf.

Neugierig ging sie auf den Strauch zu, machte ihren Hals lang, um besser sehen zu können. Doch kaum hatte sie ihren Kopf über einen Ast gestreckt, hatte der Wolf sie auch schon gepackt und ehe sie sich versah, lag sie neben ihm im Gras.
„Von dir träume ich schon lange Chérie,“ sagte der Wolf, legte seine schwarze Pfote auf Rotkäppchens Schulter und hielt ihr seine dicke schwarze Nase ins Gesicht.
“Igitt, geh weg! Du hast Mundgeruch,“ sagte Rotkäppchen.
„Das liegt daran, dass ich lange nichts gegessen habe,“ antwortete der Wolf. „Lass mal sehen, was du in deinem Körbchen hast!“
„Bleib da weg,“ schrie Rotkäppchen und schlug ihn auf die Pfote.
Aber der Wolf ließ sich nicht abhalten.
„Oh, das ist ja mein Lieblingsrotwein und Kuchen habe ich auch lange nicht mehr gegessen – gar nicht schlecht. Und für meine Bildung müsste ich auch unbedingt mal was tun, “ sagte er und schaute sich die Kreuzworträtsel etwas genauer an.

Dann packte er den Kuchen aus, öffnete die Flasche Rotwein und nahm einen kräftigen Schluck. Anschließend reichte er Rotkäppchen die Flasche und kaum war eine Stunde vergangen, hatten Rotkäppchen und der Wolf den Wein getrunken und den Kuchen aufgegessen und lagen Arm in Arm hinter dem Haselnußstrauch.

Ein paar Spaziergänger, die gerade vorbeigingen, wunderten sich über die Geräusche, die man aus dieser Richtung vernehmen konnte, zogen die Schultern hoch, lächelten und schauten einander amüsiert an. Nach einer Weile hörte man nur noch ein lautes Schnarchen und erst nach Einbruch der Dunkelheit wurde Rotkäppchen von einer rauen Stimme geweckt, die ihr ins Ohr hauchte:
„Sag mal Chérie, kennst du einen Fluss in Ägypten oder eine Stadt in Italien mit drei Buchstaben?“
Rotkäppchen rieb sich die Augen und schaute den Wolf verdutzt an.
„Oh je, es ist schon spät. Ich muss jetzt schnell nach Hause gehen,“ sagte sie, stand auf, rückte ihre Sachen zurecht und gab dem Wolf zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Dann trat sie den Heimweg an.

Total verschmiert und mit einem riesigen Knutschfleck am Hals kam sie zu Hause an. Vater und Mutter waren völlig schockiert. Sie schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und schrieen: „Mein Gott Vanessa. Was hast du nur wieder angestellt.“ Rotkäppchen bekam zur Strafe 14 Tage Fernsehverbot. Ihre Freundinnen waren allerdings sehr beeindruckt, als Rotkäppchen am nächsten Tag ihre Geschichte erzählte und ihnen stolz ihren Knutschfleck zeigte.

Der Vorfall sprach sich herum und bald sah man viele junge Damen aller Alterklassen mit roten Kappen und einem Korb in der Hand durch den Wald laufen. Die ansässige Textilindustrie, die sich inzwischen auf die Produktion roter Samtkappen spezialisiert hatte, erlebte einen nie da gewesenen Boom. Die Supermärkte verzeichneten einen Umsatzanstieg bei italienischem Rotwein und Schokoladenkuchen und die Geburtenrate stieg ebenfalls auffällig an, was sich sehr positiv auf die desolate demographische Lage der Nation auswirkte. Alle waren glücklich, und die Regierung beschloss die Zuwanderung von Wölfen zu deregulieren.
orgyen - 14. Okt, 19:40

-sweet sixteen-
Schön, dass sich hier bei Dir mal wieder was tut.
Deine Texte zu lesen macht Spass!
D.B.

Schaeferklaus - 15. Okt, 08:49

Mein Senf dazu...

JA da stimm ich zu, hat viel Spass gemacht den Text zu lesen (ironischerweise hatte ich grade Schokokuchen in der Hand als ich ihn las- Jetzt überkommt mich der drang ein Rätzelbuch kaufen zu gehen *lach*).
Hoffe doch das es nicht wieder so lnge dauern wird bis wir wieder war hör... ähhh ...lesen können.

- Dein Fischkopp -

radioaktiv - 15. Okt, 16:22

ja, stimme auch zu...

solltest echt ab und an mal was von dir lesen lassen...

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